Alltagsleben der Bewohner
Die Verteidigung der Stadt
Die
Nachricht von der deutschen Invasion am 22. Juni 1941 loeste in Leningrad eine
Welle von Massenversammlungen aus. In den folgenden zwei Wochen begaben sich
zahllose Leningrader freiwillig zu den Volkswehrformationen.
Mitte Juli beschloss die Leningrader
Parteiorganisation, Hunderttausende von Maennern und Frauen zum Bau von Befestigungsanlagen
aufzubieten.
Alles in allem gelang es Leningradern: - 450 km Panzergraeben, - 25 km offene Schuetzengraeben auszuheben; - 645 km Stacheldrahthindernisse aufzustellen; - 315 km Waldhindernisse anzulegen; - 5000 Schuetzenstellungen aus Holz oder beton zu errichten. |
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Insgesamt wurden im Stadtgebiet 17000 Stuetzpunkte in Haeusern und mehr als
4000 Bunker errichtet, dazu Barrikaden in einer Laenge von 25 Kilometern. Schwere
Batterien der Kuesten- , See- und Feldartillerie wurden rund um Leningrad
in Stellung gebracht. Die Ostseeflotte war in diesem Zusammenhang von unschaetbarem
Wert. Sogar die Kanone des Kreuzers "Aurora", die 1917 das Zeichen
zum Sturm auf das Winterpalais gegeben hatte, wurde auf die Pulkowo-Hoehen suedlich
von Leningrad, also Richtung des Feindes, gebracht.
Die Stadt verteidigte
sich heftig.
Die Beschiessung der Stadt und ihre Belagerung
Die Faschisten hofften, die
Stadt im Sturm nehmen zu koenen, nachdem sie eine Zahl von Panzern und Flugzeugen
suedwestlich und suedostlich von Leningrad zusammengezogen hatten. Es
ist ihnen nicht gelungen, und schliesslich war die Stadt abgeschnitten.
Seit Anfang September war Leningrad mit nahezu drei Millionen Menschen vom uebrigen Russland volkommen abgeschnitten. Die wenigen noch verbliebenen Verbindungswege waren mehr als unsicher. Im Jahre 1941 besass Russland kaum Flugzeuge. Die Route ueber den Ladogasee, der keine richtigen Haefen besass, war die einzige Verbindung Leningrads zu seinem Hinterland. |
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Am 4. September begann die Beschiessung
Leningrads, und vom 8. bis zum 10. September wurden heftige Luftangriffe gegen
die Stadt gefuehrt.
Der erste massierte Bombenabwurf
ueber der Stadt wurde am 6. September 1941 durchgefuehrt. Einen Tag spaeter,
am 8. September, war Leningrad einer besonders heftigen Bombardierung ausgesetzt.
Mehr als 6 000 Brand- 48 Sprengbomben wurden abgeworfen, die 183 Braende entflachten.
Das groesste Feuer entstand in den Lebensmittellagern A.S. Badajew, wo das Feuer
3 000 Tonnen Mehl und 2 500 Tonnen Zucker vernichtete. Seit dieser Zeit wurden
die Luftangriffe fast jede Nacht wiederholt. 23 Mal bombardierte die feindliche
Luftwaffe Leningrad im September 1941, ungefaehr 1 000 Spraengbomben und mehr
als 31 000 Brandbomben wurden abgeworfen. Diese Angriffe hielten die Leningrader
nicht nur in staendiger Anspannung, es gab auch zahlreiche Opfer. Bomben und
Geschosse trafen die Leningrader ueberall " zu Hause, auf der Strasse,
in der Strassenbahn, auf oeffentlichen Plaetzen.
Bei diesen ersten schweren
Angriffen warfen die Faschisten auch Zeitzuenderbomben, und da die Freiwilligen-
und damals gab es in Leningrad fuer alles Freiwillige- nicht damit umzugehen
konnten, verloren viele von ihnen ihr Leben.
Allein zwischen dem 4.
September und dem 30. November 1941 wurde die Stadt 272 Mal insgesamt 430 Stunden
lang beschossen. Es gab Tage, an denen die Bevoelkerung gezwungen war, fast
24 Stunden in den Luftschutzraeumen zu sitzen. Am 17. Dezember zum Beispiel
dauerte der Beschuss 18 Stunden 33 Minuten.
Von September bis November
1941 wurden allein durch Artilleriegeschosse 681 Menschen getoetet und 2 269
verletzt.
Die Gruende der Blockade
Nachdem es nicht gelungen
war, Leningrad im Sturm zu nehmen, erwartete das deutsche Kommando, nicht ohne
Grund, dass der Hunger die Stadt in Kuerze zur Uebergabe zwingen werde. Der
besessene Hitler jedoch ordnete an, eine Kapitulation duerfe nicht angenommen
werden, die Stadt muesse "vom Antlitz der Erde verschwinden", weil
in Leningrad Epidemien drohten und die Stadt ausserdem voellig verminnt sei,
also eine doppelte Gefahr fuer jeden Soldaten bedeutete, der sie betrete.
Warum hatte man so vile
Menschen in Leningrad gelassen, obwohl doch seit Mitte Juli die Drohung einer
Besetzung durch die Deutschen staendig ueber der Stadt hing?
Diese tragische Situation war
durch eine ganze Reihe nicht zufaelliger Fehler entstanden.
Vor allem fehlte aber der Fuehrung der Stadt die Weitsicht. Sie dachte praktisch
gar nicht daran, dass in der Stadt Lebensmittelvorraete angelegt werden muessen.Die
falschen Hoffnungen, dass die Stadt keines Falls besetzt oder belagert werden
konnte, waren auch ursaechlich dafuer, dass die Evakuierung im Juli und August
nur sehr langsam fortschritt. Im Juli und August wussten die meisten Leningrader
ueberhaupt nicht genau, wo die Deutschen standen; und da die Stadt waehrend
dieser beiden Monate nicht bombardiert wurde, warteten sie voller Hoffnung ab,
wie sich die Dinge entwickeln wuerden.
In Leningrad selbst waren
2 544 000 Zivilisten (darunter 400 000) Kinder) von der Blockade betroffen,
in den Aussenbezirken und anderen Orten innerhalb des Blockaderings weitere
343 000 Menschen- zusammen beinahe 3 Millionen.
Erst im Januar 1942 begann die Massenevakuierung
der Zivilbevoelkerung ueber das Eis des Ladogasees. Bis zu diesem Zeitpunkt
waren aber schon Hunderttausende verhungert.
Die Vorraete vor der Blockade
Am 12. September stellte
man fest, dass die in Leningrad fuer Truppen und Zivielbevoelkerung vorhandenen
Vorraete nur fuer folgende Zeitspannen reichten:
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Die taeglichen Brotrationen
Die
taeglichen Brotrationen vom 2. September 1941:
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Die taegliche Brotrationen vom 12. September
1941:
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Die niedrigste Tagesration sah so aus:
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Monatliche Zucker- und Suesswaren-, Fettrationen:
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Als die Faschisten
im September ein paar Boote mit Korn im Ladogasee versenkten, wurde ein Grossteil
des Getreides durch Taucher wieder gehoben. Obwohl dieses verschimmelte Korn
normalerweise fuer den menschlichen Verzehr ungeeignet gewesen waere, wurde
es als Zusatz verwendet.
Vom 20. Oktober
an bestand Brot aus 63% Roggenmehl, 4% Leinschrot, 4 % Kleie, 8 % Schrotkorn,
4% Sojamehl, 12% Malz und 5% schimmeligem Mehl; als die Malzreserven etliche
Tage spaeter zu Ende waren, wurden andere Ersatzstoffe verwendet, beispielweise
speziell aufbereitete Zellulose und gepresster Baumwollsamen. Diese Ersatzmittel
konnten fuer die Bevoelkerung eine Einsparung von 25 Tagesrationen bedeuten.
Nach dem Geschmack fragte bald niemand mehr.
In einem Lagergebaeude
des Hafens entdeckte man auch 2 000 Tonnen Schafdaerme. Daraus stellte man eine
entsetzliche Gelatine her, deren Geruch durch den Zusatz von Gewuerznelken neutralisiert
werden musste. Waehrend der schlimmsten Hungersnot wurde diese Gelatine aus
Schafsinnereien an die Verbraucher oft an Stelle von Fleisch auszugeben.
Die Bevoelkerung von
Leningrad wurde auf die Zuteilungskarten angewiesen, und der Verlust der Karten
war gleichbedeutend mit dem Todesurteil.
Im November und
besonders im Dezember gab es praktisch kein Fett ( Butter, Oel, Margarine) mehr,
nicht einmal irgendwelchen Ersatz. Fleischersatz war die schreckliche Suelze
aus Schafsgedaerm oder eine uebelrichende Gelatine aus Kalbshaeupten.
Die erste Herabsetzung
der Rationen wurde am 2. September beschlossen, die zweite am 10. September,
die dritte am 1. Oktober, die vierte am 13. November und die fuenfte am 20.
November. Bereits nach der vierten Kuerzung begannen die Menschen zu verhungern.
Licht und Waerme in der belagerten Stadt
Aber es mangelte
in Leningrad nicht nur an Lebensmitteln, sondern auch in katastrophaler Weise
an Brennmaterial. Oel und Kohle waren gegen Ende September restlos aufgebraucht.
Der Gebrauch elektrischen
Lichts war ueberall verboten, ausser beim Generalstab, beim Leningrader Verteidigungsrat,
beim Stadtsowjet und anderen Behoerden. Dagegen mussten Wohnhaeuser wie auch
die meisten Aemter waehrend der langen Winternaechte ohne Strom auskommen. In
Wohnungen, Bueros und Haeusern fiel die Zentralheizung aus, in Fabriken wurde
sie durch kleine Holzoefen ersetzt. Die meisten Fabriken mussten infolge Stromknappheit
schliessen oder sich mit den primitivsten Vorrichtungen, etwa Fahradantrieb,
behelfen, um die Maschinen ueberhaupt in Gang zu halten.
Der Strassenbahnverkehr wurde
im Oktober stark eingeschraenkt, im November ganz eingestellt.
Keine Lebensmittel, kein Licht,
kein Heizungsmaterial, dazu deutsche Luftangriffe und staendiges Artilleriefeuer-
das war im Winter 1941/1942 das Leben Leningrads.
Die "Strasse des Lebens"
Gegen die Leiden Leningrads
gab es nur zwei wirksame Gegenmassnahmen: die Evakuierung der Menschen und die
Einrichtung einer verlaesslichen Versorgungslinie fuer Nahrung, Brennmaterial
und Rohstoffe. Man plante eine"Eisstrasse"uber den Ladogasee zu legen.
Man nahm an, dass der See im November oder Anfang Dezember zufrieren werde.
Alles hing von der Staerke des Frostes ab. Damit eine regelrechte Autostrasse
ueber den Ladogasee angelegt werden konnte, musste das Eis zwei Meter dick sein.
Diese Staerke kam jedoch nur bei ausserordentlich kaltem Wetter von mindestens
minus 35 Grad Celsius schnell zustande.
Am 17. November war das Eis
nur einen Meter dick, aber am 20. November- dem Tag der niedrigsten Zuteilungen
in Leningrad- noch 1,80 Meter. Man schickte Pferdefuhrwerke ueber das Eis, aber
die Pferde waren so unterernaehrt, dass viele zusammenbrachen. Den Fahrern wurde
befohlen, die Tiere zu zerlegen und als Fleisch nach Leningrad zu bringen. Am
22. November wagte sich der erste Autokonvoi auf den See: das Eis war aber noch
duenn, einige Fahrzeuge brachen ein. Am folgenden Tag ging man dazu ueber,
Schlitten an die Lastwagen zu haengen und auf ihnen einen Grossteil der Ladung
zu verstauen, um so den Druck auf das Eis gleichmaessiger zu verteilen. Zwischen
dem 32. November und dem 1. Dezember wurden auf diese Weise etwa 800 Tonnen
Mehl ueber das Eis gebracht; dabei verlor man mehr als vierzig Lastwagen, die
zum Teil mit den Fahrern im Wasser versanken.
Fuer die belagerte Stadt
war die Versorgung ueber Wasser im Herbst 1941 eine grosse Hilfe. Zwischen dem
12. September und der Einstellung der Schifffahrt am 15. November wurden 24
000 Tonnen Mehl und Getreide, 1 131 Tonnen Fleisch und Molkereiprodukte geliefert,
daneben noch betraechtliche Mengen Munition und Brennstoff. Die 25 000 Tonnen
Lebensmittel bedeuteten nur einen Bruchteil dessen, was benoetigt wurde, aber
sie halfen Lenigrad, zusaetzliche 20 Tage auszuharren, und in einer belagerten
Festung zaehlt jeder Tag. Die Arbeiter der Wolchow-Flussschifffahrt, die Matrosen
und Lagerarbeiter vom Ladogasee, die Soldaten und Offiziere, die an diesen
Operationen teilnahmen- viele davon verloren ihr Leben- verteidigten jede Tonne
Lebensmittel gegen Stuerme, Feuer, feindliche Flugzeuge und Pluenderung. Was
sie taten, bleibt unvergessen.
Zwischen Mitte November
und Ende Dezember wurden 35 000 Menschen, hauptsaechlich auf dem Luftwege, aus
Leningrad evakuiert. Am 6. Dezember erlaubte man vielen Leuten, die Stadt ueber
das Eis des Ladogasees zu verlassen. Aber bis zum 22. Januar verlief diese Evakuierung
ungeordnet: Tausende ueberquerten den Ladogasee einfach zu Fuss, und viele starben,
noch ehe sie das andere Ufer des Sees erreichten. Erst am 22. Januar begann
man mit der Evakuierung der Menschen mit den Bussen.
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Man beschloss
eine halbe Million Menschen zu evakuieren. Den Vorrang hatten Frauen, Kinder,
Alte und Kranke.
Im Januar wurden
11 000, im Februar 117 000, im Maerz 221 000, im April 163 000 Menschen evakuiert,
zusammen 512 000.
Als im Mai das
Eis des Ladogasees geschmolzen war, ging die Aktion per Schiff weiter. Zwischen
Mai und November wurden weitere 449 000 Personen evakuiert. Damit betrug die
Gesamtzahl der im Jahre 1942 Evakuierten fast eine Million.
Wichig war auch die Oelleitung,
die zwischen April und Juni 1942 auf dem Grund des Ladogasees verlegt wurde,
um Leningrad mit Brennstoff zu versorgen. Die deutschen Versuche, diese Leitung
mit Unterwasserbomben zu zerstoeren, schlugen fehl. Im Mai 1942 wurde auch ein
elektrisches Kabel auf dem Seegrund verlegt.
Die Rettungslinie ueber
den Ladogasee funktionierte zufriedenstellend, bis im Januar 1943 die Blockade
gebrochen wurde.
Der Tod in der Stadt
Bereits im November
starben in Leningrad die ersten Menschen, vor allem aeltere Maenner, an Hunger,
der beschoenigend mit Unterernaehrung" umschrieben wurde. Allein im November
starben 11 000 Menschen. Die Kuerzung der Rationen am 20. November erhoehte
die Rate noch betraechtlich.
Im Dezember starben
52 000 Menschen;
im Januar 1942
taeglich zwischen 3 500 und 4000 Menschen;
im Dezember und
Januar zusammen 200 000.
Aber die Menschen litten nicht
nur unter Hunger, sondern auch unter der Kaelte. Sie verbrannten Moebel und
Buecher, doch half das nur fuer kurze Zeit.
Um
die schrecklichen Qualen, die der Hunger verursachte, zu lindern und um die
leeren Maegen zu fuellen, suchte man nach unglaublichen Ersatzmitteln: die Leute
versuchten Kraehen zu fangen oder Katzen und Hunde, die bis dahin ueberlebt
hatten; sie durchsuchten ihre Arzneikaestchen nach Rizinusoel, Haaroel, Vaseline
oder Glyzerin; sie bereiteten Suppe oder Suelze aus Kleister, der von Tapeten
oder Moebeln abgekratzt wurde. Aber nicht alle verfuegten sogar ueber
solche zusaetzliche "Nahrungsmittel"-Quellen.
Der
Tod fand die Menschen ueberall; mitten auf der Strasse fielen sie um und standen
nicht wieder auf; in ihren Haeusern schliefen sie ein und erwachten nie wieder;
in den Fabriken brachen sie waehrend der Arbeit zusammen.
Es gab keine
Transportmittel, und gewoehnlich legte man den Toten auf einen Handschlitten,
der von zwei oder drei Familienangehoerigen gezogen wurde; oft waren diese vom
langen Weg zum Friedhof voellig erschoepft, sie luden dann die Leiche unterwegs
ab und ueberliessen das Weitere den Behoerden..
Es war unmoeglich,
einen Sarg zu kriegen. Hunderte von Leichen wurden auf den Friedhoefen oder
in deren Umgebung einfach liegen gelassen, nur in ein Tuch eingeschlagen. Die
Behoerden beerdigten alle diese Leichen in Gemeinschaftsgraebern.
Die Krankenhaeuser
konnten den Sterbenden kaum helfen. Aerzte und Krankenschwestern waren selbst
verhungert, und was die Patienten benoetigten, waren nicht Medikamente, sondern
Lebensmittel, und die gab es nicht.
Im Dezember und Januar
schloss der Frost die Wasserleitungen und Abflusskanaele. Die geborstenen Rohre
in der Stadt vermehrten die Epidemiegefahr. Mit Eimern musste man das Wasser
aus der Newa oder den zahlreichen Leningrader Baechen holen; es war schmutzig
und eignete sich nicht zum Trinken.
Ueber die Hoehe der Kindersterblichkeit
gibt es keine genauen Angaben; vermutlich war sie jedoch relativ gering, vielleicht
deswegen, dass die Eltern auch die eigenen mageren Rationen fuer ihre Kinder
opferten.
Zu Unruhen und Hungerkrawallen kam
es nicht; Patriotismus und eiserne Disziplin garantierten die Ordnung, und wo
es noetig war, halfen die Behoerden. Die Strafen fuer asoziales Verhalten waren
drastisch. Wegen eines halben Pfunds gestohlenen Brots wurden die Leute erschossen.
Natuerlich gab es da und dort Abwiegler, aber im allgemeinen war die Disziplin
gut.
Muede und abgekaempft halfen junge Leute,
hauptsaechlich Maedchen, der Bevoelkerung, die schrecklichen Schwierigkeiten
zu ueberwinden. Bei den Besuchen in schmutzigen und eiskalten Haeusern halfen
sie mit ihren geschwollenen, von Kaelte und harter Arbeit aufgerissenen Haenden
Holz zu hacken und kleine Oefen zu feuern, das Wasser eimerweise von der Newa
zu holen, das Essen aus einer Kantine zu bringen, Boeder zu schrubben oder Kleider
zu waschen.
Geschwaechte, blasse Menschen (Unterernaehrung
zweiten Grades) schliechen herum, wohl erstaunt beim Gedanken daran, dass sie
noch am Leben sind... Unter den Leningradern gab es auch Leute, die sich nicht
mehr bewegen und nicht mehr gehen konnten ( Unterernaehrung dritten Grades).
Sie lagen still in ihren eiskalten Haeusern...
Was frueher nicht bekannt war
Die Tagebucheintagungen
zeigen aber auch, dass es im Ueberlebenskampf der Eingeschlossenen nicht nur
Heldentum gab. Da ist in den Aufzeichnungen die Rede von Betrug, Diebstahl,
Bestechung und Schwarzhandel, um an Lebensmittel, Petroleum oder Essensmarken
heranzukommen. Die "Strasse des Lebens" war auch ein Zentrum fuer
Profiteure und Schwarzhaendler; obwohl die Todesstrafe drohte, verlangten viele
LKW-Fahrer Zigaretten, Brot oder Mehl fuer eiene Evakuierungsfahrt ueber das
Eis.
Ein besonders duesteres
und lange verschwiegenes Kapitel stellen die Sonderrationen fuer den Smolny,
den Sitz der leningrader Parteifuehrung, dar. Wurst, Milch und andere aus dem
Hinterland eingeflogene Produkte, selbst Pfirsiche stuenden zu Ihrer
Verfuegung. Eine Fabrik habe sogar Rumkugeln fuer die fuehrenden Funktionaere
hergestellt. Die Bevoelkerung habe aber diese Produkte auf dem Schwarzmarkt
erwerben koennen.
Die Arbeit und die
Schulen
in der belagerten Stadt
Die Menschen
arbeiteten doch, sie gaben nicht auf. Aus den Erinnerungen eines Fabrikdirektors:
"... Wir arbeiteten unter wirklich hoelischen Bedingungen,
mit acht Grad Frost in den Werkstaetten und 14 Grad im Buero. Wir hatten Oefen,
die die Luft in einem Umkreis von einem halben Meter erwaermten. Aber unsere
Leute arbeiteten trotzdem. Und sie waren hungrig, entsetzlich hungrig... Ich
kann nicht verstehen, wie man so viel Willenskraft, so viel Chrakterstaerke
aufbringen konnte. Viele, die vor Hunger kaum gehen konnten, schleppten sich
taeglich zu Fuss in die Fabrik, acht, zehn, sogar zwoelf Kilometer weit...
Irgendwie spuerten die
Menschen, wenn es ans Sterben ging. Wie viele Arbeiter kamen ins Buero
und sagten: "Chef, ich werde heute oder morgen sterben." Wir schickten
sie ins Krankenhaus, aber sie starben immer. Die Leute assen alles moegliche
und unmoegliche: Kuhfladen und Mineraloele, sogar Kleister.Die Leute versuchten
sich mit heissem Wasser und Hefe durchzubringen. Ueberall waren Leichen.
Einige Leute waren vom
Hunger so geschwaecht, dass wir im Werk Herbergen einrichten mussten, wo sie
dann bleiben konnten. Anderen, die zu Hause wohnten, erlaubten wir, nur zweimal
in der Woche zu kommen... Ende November mussten wir eine Versammlung einberufen,
um eine Herabsetzung der Brotration von 400 auf 250 Gramm fuer Arbeiter und
auf 125 Gramm fuer andere mitzuteilen. Sie nahmen es ruhig hin, obwohl es fuer
viele das Todesurtei war."
Die Arbeiter waren keine
Soldaten; 69% waren Frauen und Maedchen- meist junge Maedchen.Sie wussten, dass
es hier so schlimm war wie an der Front. In gewisser Weise sogar schlimmer.
Aus den Erinnerungen des damaligen Arbeiters A.Tichomirow:
"Ich ging durch eine der Giesereien. Das eine Ende der Halle war ganz dunkel, aber hinter einer dicken Ziegelwand war die andere Haelfte von den Flammen der offenen Hochoefen gluehenrot erleuchtet. Die Hitze war unertraeglich. Im Feuerschein bewegten sich dunkel und unheimlich menschliche Schatten. Es waren hauptsaechlich Frauen. Maedchen, mit geflickten Baumwollstruempfen an den duennen Beinen, kruemmten sich unter dem Gewicht der riesigen Trauben hochroten Stahls, die sie mit Zangen hielten. Dann sah man- und beim Zuschauen fuehlte man ihre verzweifelte korperliche Anstrengung und Willenskraft-, wie sie ihre schlanken, beinahe kindlichen Arme erhoben und die rotgluehenden Trauben unter einen gigantischen Stahlhammer schleuderten. Grosse rote Metallsplitter zischten durch das roetliche Halbdunkel, und die ganze Gieserei erzitterte unter dem ohrenbetaeubenden Laerm und Getoese der Maschinen."
"Im Januar und Februar setzte neben der Blockade noch ein schrecklicher Frost ein und half Hitler. Nie zuvor war es kaelter als minus 30 Grad gewesen! Unser Unterricht wurde nach dem "Rund-um "den Ofen"-Prinzip weitergefuehrt. Es gab keine festen Plaetze, und wenn man in Ofennaehe oder unter dem Ofenrohr sitzen wollte, musste man zeitig kommen. Der Platz gegenueber der Ofentuere war fuer den Lehrer reserviert. Man setzte sich und wurde ploetzlich von einem herrlichen Gefuehl des Wohlseins erfasst. Die Waerme durchdrang die Haut bis auf die Knochen. Sie machte einen ganz muede und schlaff. Man wollte am liebsten an nichts denken, nur doesen und die Waerme aufnehmen. Es war eine Qual, sich zu erheben und zur Tafel zu gehen.... Die Wandtafel war so kalt und dunkel, und die Hand, gefangen im dicken Handschuh, wurde ganz starr und steif und verweigerte den Dienst. Immer wieder fiel die Kreide aus der Hand, und die Zeilen wurden ganz krumm... Waehrend der Pause blieben alle sitzen, denn keiner hatte Verlangen nach den eisigen Korridoren...."
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Die sechzehnjaehrige Ljuba Tereschenkowa:
"Unser Lehrer arbeitete verantwortungsvoll, bis er merkte, dass er nicht
mehr gehen konnte. Er bat um ein paar Tage Urlaub in der Hoffnung, dass seine
Kraefte zurueckkehren wuerden. Er blieb zu Hause und bereitete die Lektionen
fuer das naechste Schuljahr vor. Er las weiterhin Buecher. So verbrachte er
den 8. Januar. Am 9. Januar entschlief er sanft."
Die Folgen der Blockade
Im Januar 1943
wurde die Blockade gebrochen. Aber die Hitlerfaschisten fuhren fort, Leningrad
mit ihrer Artillerie zu beschiessen und mit ihrer Luftwaffe zu bombardieren.
1943 beschoss die deutsche Artillerie die Stadt 561 Mal und feuerte etwa 67
000 Geschosse ab. Die deutsche Luftwaffe fuehrte 104 Luftangriffe durch und
warf etwa 600 Spreng- und mehr als 2 600 Brandbomben ab. 1 549 Leningrader wurden
getoetet und 5 418 verletzt.
Die durch die
Blockade angerichteten Schaeden waren ausserordentlich hoch und wurden auf 38
535 134 000 Rubel geschaetzt.
Die Hitlerfaschisten,
die ungefaehr 150 000 Geschosse und mehr als 107 000 Brand- und Sprengbomben
auf die Stadt abgeworfen hatten, toeteten 16 747 Menschen und verletzten 33
782. Nicht weniger als 800 000 Leningrader starben an Hunger. Indgesamt kamen
ungefaehr eine Million Menschen in Leningrad und seinen Vororten um. Tausende
von Werks- und Fabrikgebaeuden, Kliniken, Schulen und Wohnhaeusern wurden zerstoert
oder verbrannt. Schwer litten die in aller Welt beruehmten Geschichts- und Kulturdenkmaeler.