Hauptmenue
Webseite in russischer Sprache

Alltagsleben der Bewohner


Die  Verteidigung der Stadt


         Die Nachricht von der deutschen Invasion am 22. Juni 1941 loeste in Leningrad eine Welle von Massenversammlungen aus. In den folgenden zwei Wochen begaben sich zahllose Leningrader freiwillig zu den Volkswehrformationen.

         Mitte Juli beschloss die Leningrader Parteiorganisation, Hunderttausende von Maennern und Frauen zum Bau von Befestigungsanlagen aufzubieten.

         Alles in allem gelang es Leningradern:
- 450 km Panzergraeben,
- 25 km offene Schuetzengraeben auszuheben;
- 645 km Stacheldrahthindernisse aufzustellen;
- 315 km Waldhindernisse anzulegen;
- 5000 Schuetzenstellungen aus Holz oder beton zu errichten.

          Insgesamt wurden im Stadtgebiet 17000 Stuetzpunkte in Haeusern und mehr als 4000 Bunker errichtet, dazu Barrikaden in einer Laenge von 25 Kilometern. Schwere Batterien  der Kuesten- , See- und Feldartillerie wurden rund um Leningrad in Stellung gebracht. Die Ostseeflotte war in diesem Zusammenhang von unschaetbarem Wert. Sogar die Kanone des Kreuzers "Aurora", die 1917 das Zeichen zum Sturm auf das Winterpalais gegeben hatte, wurde auf die Pulkowo-Hoehen suedlich von Leningrad, also Richtung des Feindes, gebracht.
          Die Stadt verteidigte sich heftig.

 

   Die Beschiessung der Stadt und ihre Belagerung


         Die Faschisten hofften, die Stadt im Sturm nehmen zu koenen, nachdem sie eine Zahl von Panzern und Flugzeugen suedwestlich und suedostlich von Leningrad zusammengezogen  hatten. Es ist ihnen nicht gelungen, und schliesslich war die Stadt abgeschnitten.       

        Seit Anfang September war Leningrad mit nahezu drei Millionen Menschen vom uebrigen Russland volkommen abgeschnitten. Die wenigen noch verbliebenen Verbindungswege waren mehr als unsicher. Im Jahre 1941 besass Russland kaum Flugzeuge. Die Route ueber den Ladogasee, der keine richtigen Haefen besass, war die einzige Verbindung Leningrads zu seinem Hinterland.

          Am 4. September begann die Beschiessung Leningrads, und vom 8. bis zum 10. September wurden heftige Luftangriffe gegen die Stadt gefuehrt.
          Der erste massierte Bombenabwurf ueber der Stadt wurde am 6. September 1941 durchgefuehrt. Einen Tag spaeter, am 8. September, war Leningrad einer besonders heftigen Bombardierung ausgesetzt. Mehr als 6 000 Brand- 48 Sprengbomben wurden abgeworfen, die 183 Braende entflachten. Das groesste Feuer entstand in den Lebensmittellagern A.S. Badajew, wo das Feuer 3 000 Tonnen Mehl und 2 500 Tonnen Zucker vernichtete. Seit dieser Zeit wurden die Luftangriffe fast jede Nacht wiederholt.  23 Mal bombardierte die feindliche Luftwaffe Leningrad im September 1941, ungefaehr 1 000 Spraengbomben und mehr als 31 000 Brandbomben wurden abgeworfen. Diese Angriffe hielten die Leningrader nicht nur in staendiger Anspannung, es gab auch zahlreiche Opfer. Bomben und Geschosse trafen die Leningrader ueberall " zu Hause, auf der Strasse, in der Strassenbahn, auf oeffentlichen Plaetzen.
          Bei diesen ersten schweren Angriffen warfen die Faschisten auch Zeitzuenderbomben, und da die Freiwilligen- und damals gab es in Leningrad fuer alles Freiwillige- nicht damit umzugehen konnten, verloren viele von ihnen ihr Leben.
          Allein zwischen dem 4. September und dem 30. November 1941 wurde die Stadt 272 Mal insgesamt 430 Stunden lang beschossen. Es gab Tage, an denen die Bevoelkerung gezwungen war, fast 24 Stunden in den Luftschutzraeumen zu sitzen. Am 17. Dezember zum Beispiel dauerte der Beschuss 18 Stunden 33 Minuten.
         Von September bis November 1941 wurden allein durch Artilleriegeschosse 681 Menschen getoetet und 2 269 verletzt.
  

 


Die Gruende der Blockade

 
          Nachdem es nicht gelungen war, Leningrad im Sturm zu nehmen, erwartete das deutsche Kommando, nicht ohne Grund, dass der Hunger die Stadt in Kuerze zur Uebergabe zwingen werde. Der besessene Hitler jedoch ordnete an, eine Kapitulation duerfe nicht angenommen werden, die Stadt muesse "vom Antlitz der Erde verschwinden", weil in Leningrad Epidemien drohten und die Stadt ausserdem voellig verminnt sei, also eine doppelte Gefahr fuer jeden Soldaten bedeutete, der sie betrete.
         Warum hatte man so vile Menschen in Leningrad gelassen, obwohl doch seit Mitte Juli die Drohung einer Besetzung durch die Deutschen staendig ueber der Stadt hing?
         Diese tragische Situation war durch eine ganze Reihe nicht zufaelliger Fehler entstanden.
Vor allem fehlte aber der Fuehrung der Stadt die Weitsicht. Sie dachte praktisch gar nicht daran, dass in der Stadt Lebensmittelvorraete angelegt werden muessen.Die falschen Hoffnungen, dass die Stadt keines Falls besetzt oder belagert werden konnte, waren auch ursaechlich dafuer, dass die Evakuierung im Juli und August nur sehr langsam fortschritt. Im Juli und August wussten die meisten Leningrader ueberhaupt nicht genau, wo die Deutschen standen; und da die Stadt waehrend dieser beiden Monate nicht bombardiert wurde, warteten sie voller Hoffnung ab, wie sich die Dinge entwickeln wuerden.
          In Leningrad selbst waren 2 544 000 Zivilisten (darunter 400 000) Kinder) von der Blockade betroffen, in den Aussenbezirken und anderen Orten innerhalb des Blockaderings weitere 343 000 Menschen- zusammen beinahe 3 Millionen.
         Erst im Januar 1942 begann die Massenevakuierung der Zivilbevoelkerung ueber das Eis des Ladogasees. Bis zu diesem Zeitpunkt waren aber schon Hunderttausende verhungert.

  
Die Vorraete vor der Blockade


          Am 12. September stellte man fest, dass die in Leningrad fuer Truppen und Zivielbevoelkerung vorhandenen Vorraete nur fuer folgende Zeitspannen reichten:                         

 
Getreide und Mehl    35 Tage
Getreideprodukte und Nudeln 30 Tage
Fleisch, einschl. Lebendvieh  33 Tage
Fette    45 Tage
  Zucker und Suesswaren     60 Tage
 


Die taeglichen Brotrationen

 

Die taeglichen Brotrationen  vom 2. September 1941:

 
Arbeiter      600 g
Bueroangestellte       400 g
Kinder  300 g
Sonstige Abhaengige    300 g
 


     Die taegliche Brotrationen  vom 12. September 1941:

 
Arbeiter      500 g
Bueroangestellte       300 g
Kinder 250 g
Sonstige Abhaengige    250 g
 



     Die niedrigste Tagesration sah so aus:

 
  Arbeiter, Ingenieure Bueroangestellte Abhaengige Kinder
Brot 255 g   125 g   125 g 125 g
Fett 20 g   10 g   7g 17 g
Fleisch 50 g     30 g  15 g   15 g
Getreideprodukte 50 g     33 g   20 g 40g
Zucker und Suesswaren  50 g     33 g   28 g  40 g
Zusammen 425 g   231 g    195 g  237 g
1087 KKalorien   581 KKal. 466 KKal.  684 Kkal.
 



   Monatliche Zucker- und Suesswaren-, Fettrationen:

 
  Zucker- und Suesswaren Fette
Arbeiter 2000 g  1000 g
Bueroangestellte 1700 g  500 g
Kinder 1500 g  500 g
Sonstige Abhaengige    1500 g  500 g
 

            Als die Faschisten im September ein paar Boote mit Korn im Ladogasee versenkten, wurde ein Grossteil des Getreides durch Taucher wieder gehoben. Obwohl dieses verschimmelte Korn normalerweise fuer den menschlichen Verzehr ungeeignet gewesen waere, wurde es als Zusatz verwendet.
           Vom 20. Oktober an bestand Brot aus 63% Roggenmehl, 4% Leinschrot, 4 % Kleie, 8 % Schrotkorn, 4% Sojamehl, 12% Malz und 5% schimmeligem Mehl; als die Malzreserven etliche Tage spaeter zu Ende waren, wurden andere Ersatzstoffe verwendet, beispielweise speziell aufbereitete Zellulose und gepresster Baumwollsamen. Diese Ersatzmittel konnten fuer die Bevoelkerung eine Einsparung von 25 Tagesrationen bedeuten. Nach dem Geschmack fragte bald niemand mehr.
           In einem Lagergebaeude des Hafens entdeckte man auch 2 000 Tonnen Schafdaerme. Daraus stellte man eine entsetzliche Gelatine her, deren Geruch durch den Zusatz von Gewuerznelken neutralisiert werden musste. Waehrend der schlimmsten Hungersnot wurde diese Gelatine aus Schafsinnereien an die Verbraucher oft an Stelle von Fleisch auszugeben.
           Die Bevoelkerung von Leningrad wurde auf die Zuteilungskarten angewiesen, und der Verlust der Karten war gleichbedeutend mit dem Todesurteil.
            Im November und besonders im Dezember gab es praktisch kein Fett ( Butter, Oel, Margarine) mehr, nicht einmal irgendwelchen Ersatz. Fleischersatz war die schreckliche Suelze aus Schafsgedaerm oder eine uebelrichende Gelatine aus Kalbshaeupten.
           Die erste Herabsetzung der Rationen wurde am 2. September beschlossen, die zweite am 10. September, die dritte am 1. Oktober, die vierte am 13. November und die fuenfte am 20. November. Bereits nach der vierten Kuerzung begannen die Menschen zu verhungern.


Licht und Waerme in der belagerten Stadt



          Aber es mangelte in Leningrad nicht nur an Lebensmitteln, sondern auch in katastrophaler Weise an Brennmaterial. Oel und Kohle waren gegen Ende September restlos aufgebraucht.
          Der Gebrauch elektrischen Lichts war ueberall verboten, ausser beim Generalstab, beim Leningrader Verteidigungsrat, beim Stadtsowjet und anderen Behoerden. Dagegen mussten Wohnhaeuser wie auch die meisten Aemter waehrend der langen Winternaechte ohne Strom auskommen. In Wohnungen, Bueros und Haeusern fiel die Zentralheizung aus, in Fabriken wurde sie durch kleine Holzoefen ersetzt. Die meisten Fabriken mussten infolge Stromknappheit schliessen oder sich mit den primitivsten Vorrichtungen, etwa Fahradantrieb, behelfen, um die Maschinen ueberhaupt in Gang zu halten.
          Der Strassenbahnverkehr wurde im Oktober stark eingeschraenkt, im November ganz eingestellt.
          Keine Lebensmittel, kein Licht, kein Heizungsmaterial, dazu deutsche Luftangriffe und staendiges Artilleriefeuer- das war im Winter 1941/1942 das Leben Leningrads.


Die "Strasse des Lebens"



          Gegen die Leiden Leningrads gab es nur zwei wirksame Gegenmassnahmen: die Evakuierung der Menschen und die Einrichtung einer verlaesslichen Versorgungslinie fuer Nahrung, Brennmaterial und Rohstoffe. Man plante eine"Eisstrasse"uber den Ladogasee zu legen. Man nahm an, dass der See im November oder Anfang Dezember zufrieren werde. Alles hing von der Staerke des Frostes ab. Damit eine regelrechte Autostrasse ueber den Ladogasee angelegt werden konnte, musste das Eis zwei Meter dick sein. Diese Staerke kam jedoch nur bei ausserordentlich kaltem Wetter von mindestens minus 35 Grad Celsius schnell zustande.
         Am 17. November war das Eis nur einen Meter dick, aber am 20. November- dem Tag der niedrigsten Zuteilungen in Leningrad- noch 1,80 Meter. Man schickte Pferdefuhrwerke ueber das Eis, aber die Pferde waren so unterernaehrt, dass viele zusammenbrachen. Den Fahrern wurde befohlen, die Tiere zu zerlegen und als Fleisch nach Leningrad zu bringen. Am 22. November wagte sich der erste Autokonvoi auf den See: das Eis war aber noch duenn,  einige Fahrzeuge brachen ein. Am folgenden Tag ging man dazu ueber, Schlitten an die Lastwagen zu haengen und auf ihnen einen Grossteil der Ladung zu verstauen, um so den Druck auf das Eis gleichmaessiger zu verteilen. Zwischen dem 32. November und dem 1. Dezember wurden auf diese Weise etwa 800 Tonnen Mehl ueber das Eis gebracht; dabei verlor man mehr als vierzig Lastwagen, die zum Teil mit den Fahrern im Wasser versanken.



         Fuer die belagerte Stadt war die Versorgung ueber Wasser im Herbst 1941 eine grosse Hilfe. Zwischen dem 12. September und der Einstellung der Schifffahrt am 15. November wurden 24 000 Tonnen Mehl und Getreide, 1 131 Tonnen Fleisch und Molkereiprodukte geliefert, daneben noch betraechtliche Mengen Munition und Brennstoff. Die 25 000 Tonnen Lebensmittel bedeuteten nur einen Bruchteil dessen, was benoetigt wurde, aber sie halfen Lenigrad, zusaetzliche 20 Tage auszuharren, und in einer belagerten Festung zaehlt jeder Tag. Die Arbeiter der Wolchow-Flussschifffahrt, die Matrosen und  Lagerarbeiter vom Ladogasee, die Soldaten und Offiziere, die an diesen Operationen teilnahmen- viele davon verloren ihr Leben- verteidigten jede Tonne Lebensmittel gegen Stuerme, Feuer, feindliche Flugzeuge und Pluenderung. Was sie taten, bleibt unvergessen.
          Zwischen Mitte November und Ende Dezember wurden 35 000 Menschen, hauptsaechlich auf dem Luftwege, aus Leningrad evakuiert. Am 6. Dezember erlaubte man vielen Leuten, die Stadt ueber das Eis des Ladogasees zu verlassen. Aber bis zum 22. Januar verlief diese Evakuierung ungeordnet: Tausende ueberquerten den Ladogasee einfach zu Fuss, und viele starben, noch ehe sie das andere Ufer des Sees erreichten. Erst am 22. Januar begann man mit der Evakuierung der Menschen mit den Bussen.


           Man beschloss eine halbe Million Menschen zu evakuieren. Den Vorrang hatten Frauen, Kinder, Alte und Kranke.
           Im Januar wurden 11 000, im Februar 117 000, im Maerz 221 000, im April 163 000 Menschen evakuiert, zusammen 512 000.
           Als im Mai das Eis des Ladogasees geschmolzen war, ging die Aktion per Schiff weiter. Zwischen Mai und November wurden weitere 449 000 Personen evakuiert. Damit betrug die Gesamtzahl der im Jahre 1942 Evakuierten fast eine Million.
          Wichig war auch die Oelleitung, die zwischen April und Juni 1942 auf dem Grund des Ladogasees verlegt wurde, um Leningrad mit Brennstoff zu versorgen. Die deutschen Versuche, diese Leitung mit Unterwasserbomben zu zerstoeren, schlugen fehl. Im Mai 1942 wurde auch ein elektrisches Kabel auf dem Seegrund verlegt.
          Die Rettungslinie ueber den Ladogasee funktionierte zufriedenstellend, bis im Januar 1943 die Blockade gebrochen wurde.


Der Tod in der Stadt



           Bereits im November starben in Leningrad die ersten Menschen, vor allem aeltere Maenner, an Hunger, der beschoenigend mit Unterernaehrung" umschrieben wurde. Allein im November starben 11 000 Menschen.  Die Kuerzung der Rationen am 20. November erhoehte die Rate noch betraechtlich.
           Im Dezember starben 52 000 Menschen;
           im Januar 1942 taeglich zwischen 3 500 und 4000 Menschen;
           im Dezember und Januar zusammen 200 000.

        Aber die Menschen litten nicht nur unter Hunger, sondern auch unter der Kaelte. Sie verbrannten Moebel und Buecher, doch half das nur fuer kurze Zeit.



             Um die schrecklichen Qualen, die der Hunger verursachte, zu lindern und um die leeren Maegen zu fuellen, suchte man nach unglaublichen Ersatzmitteln: die Leute versuchten Kraehen zu fangen oder Katzen und Hunde, die bis dahin ueberlebt hatten; sie durchsuchten ihre Arzneikaestchen nach Rizinusoel, Haaroel, Vaseline oder Glyzerin; sie bereiteten Suppe oder Suelze aus Kleister, der von Tapeten oder  Moebeln abgekratzt wurde. Aber nicht alle verfuegten sogar ueber solche zusaetzliche "Nahrungsmittel"-Quellen.
             Der Tod fand die Menschen ueberall; mitten auf der Strasse fielen sie um und standen nicht wieder auf; in ihren Haeusern schliefen sie ein und erwachten nie wieder; in den Fabriken brachen sie waehrend der Arbeit zusammen.
            Es gab keine Transportmittel, und gewoehnlich legte man den Toten auf einen Handschlitten, der von zwei oder drei Familienangehoerigen gezogen wurde; oft waren diese vom langen Weg zum Friedhof voellig erschoepft, sie luden dann die Leiche unterwegs ab und ueberliessen das Weitere den Behoerden..
            Es war unmoeglich, einen Sarg zu kriegen. Hunderte von Leichen wurden auf den Friedhoefen oder in deren Umgebung einfach liegen gelassen, nur in ein Tuch eingeschlagen. Die Behoerden beerdigten alle diese Leichen in Gemeinschaftsgraebern.
            Die Krankenhaeuser konnten den Sterbenden kaum helfen. Aerzte und Krankenschwestern waren selbst verhungert, und was die Patienten benoetigten, waren nicht Medikamente, sondern Lebensmittel, und die gab es nicht.



          Im Dezember und Januar schloss der Frost die Wasserleitungen und Abflusskanaele. Die geborstenen Rohre in der Stadt vermehrten die Epidemiegefahr. Mit Eimern musste man das Wasser aus der Newa oder den zahlreichen Leningrader Baechen holen; es war schmutzig und eignete sich nicht zum Trinken.
         Ueber die Hoehe der Kindersterblichkeit gibt es keine genauen Angaben; vermutlich war sie jedoch relativ gering, vielleicht deswegen, dass die Eltern auch die eigenen mageren Rationen fuer ihre Kinder opferten.
         Zu Unruhen und Hungerkrawallen kam es nicht; Patriotismus und eiserne Disziplin garantierten die Ordnung, und wo es noetig war, halfen die Behoerden. Die Strafen fuer asoziales Verhalten waren drastisch. Wegen eines halben Pfunds gestohlenen Brots wurden die Leute erschossen. Natuerlich gab es da und dort Abwiegler, aber im allgemeinen war die Disziplin gut.
       Muede und abgekaempft halfen junge Leute, hauptsaechlich Maedchen, der Bevoelkerung, die schrecklichen Schwierigkeiten zu ueberwinden. Bei den Besuchen in schmutzigen und eiskalten Haeusern halfen sie mit ihren geschwollenen, von Kaelte und harter Arbeit aufgerissenen Haenden Holz zu hacken und kleine Oefen zu feuern, das Wasser eimerweise von der Newa zu holen, das Essen aus einer Kantine zu bringen, Boeder zu schrubben oder Kleider zu waschen.
       Geschwaechte, blasse Menschen (Unterernaehrung zweiten Grades) schliechen herum, wohl erstaunt beim Gedanken daran, dass sie noch am Leben sind... Unter den Leningradern gab es auch Leute, die sich nicht mehr bewegen und nicht mehr gehen konnten ( Unterernaehrung dritten Grades). Sie lagen still in ihren eiskalten Haeusern...



Was frueher nicht bekannt war



           Die Tagebucheintagungen zeigen aber auch, dass es im Ueberlebenskampf der Eingeschlossenen nicht nur Heldentum gab. Da ist in den Aufzeichnungen die Rede von Betrug, Diebstahl, Bestechung und Schwarzhandel, um an Lebensmittel, Petroleum oder Essensmarken heranzukommen. Die "Strasse des Lebens" war auch ein Zentrum fuer Profiteure und Schwarzhaendler; obwohl die Todesstrafe drohte, verlangten viele LKW-Fahrer Zigaretten, Brot oder Mehl fuer eiene Evakuierungsfahrt ueber das Eis.
           Ein besonders duesteres und lange verschwiegenes Kapitel stellen die Sonderrationen fuer den Smolny, den Sitz der leningrader Parteifuehrung, dar. Wurst, Milch und andere aus dem Hinterland eingeflogene Produkte, selbst Pfirsiche   stuenden zu Ihrer Verfuegung. Eine Fabrik habe sogar Rumkugeln fuer die fuehrenden Funktionaere hergestellt. Die Bevoelkerung habe aber diese Produkte auf dem Schwarzmarkt erwerben koennen.


Die Arbeit und die
Schulen

in der belagerten Stadt

(Erinnerungen der Augenzeugen aus dem Buch:
Alexander Werth. "Vorstoss auf  Leningrad". - "900 Tage Blockade Leningrads". Teil II. -
Berlin: Paedagogisches Zentrum, 1991)

           Auch die unerhoerten Schwierigkeiten liessen die Leningrader nicht aufgeben. In kalten Gebaeuden, unter Beschuss und Bombardierungen arbeiteten sie weiter. In der zweiten Jahreshaelfte 1941 fertigten die Leningrader 318 Flugzeuge, 713 Panzer, 6 Panzerzuege, 480 Panzerwagen, ueber 3 000 unterschiedliche Artilleriegeschuetze, ueber 2 500 Flammenwerfer, ueber 10 500 Maschinengewehre und eine grosse Menge an Munition.



            Die Menschen arbeiteten doch, sie gaben nicht auf. Aus den Erinnerungen eines Fabrikdirektors:
   "... Wir arbeiteten unter wirklich hoelischen Bedingungen, mit acht Grad Frost in den Werkstaetten und 14 Grad im Buero. Wir hatten Oefen, die die Luft in einem Umkreis von einem halben Meter erwaermten. Aber unsere Leute arbeiteten trotzdem. Und sie waren hungrig, entsetzlich hungrig... Ich kann nicht verstehen, wie man so viel Willenskraft, so viel Chrakterstaerke aufbringen konnte. Viele, die vor Hunger kaum gehen konnten, schleppten sich taeglich zu Fuss in die Fabrik, acht, zehn, sogar zwoelf Kilometer weit...
          Irgendwie spuerten die Menschen, wenn es ans  Sterben ging. Wie viele Arbeiter kamen ins Buero und sagten: "Chef, ich werde heute oder morgen sterben." Wir schickten sie ins Krankenhaus, aber sie starben immer. Die Leute assen alles moegliche und unmoegliche: Kuhfladen und Mineraloele, sogar Kleister.Die Leute versuchten sich mit heissem Wasser und Hefe durchzubringen. Ueberall waren Leichen.
         Einige  Leute waren vom Hunger so geschwaecht, dass wir im Werk Herbergen einrichten mussten, wo sie dann bleiben konnten. Anderen, die zu Hause wohnten, erlaubten wir, nur zweimal in der Woche zu kommen... Ende November mussten wir eine Versammlung einberufen, um eine Herabsetzung der Brotration von 400 auf 250 Gramm fuer Arbeiter und auf 125 Gramm fuer andere mitzuteilen. Sie nahmen es ruhig hin, obwohl es fuer viele das Todesurtei war."
          Die Arbeiter waren keine Soldaten; 69% waren Frauen und Maedchen- meist junge Maedchen.Sie wussten, dass es hier so schlimm war wie an der Front. In gewisser Weise sogar schlimmer.

       Aus den Erinnerungen  des damaligen Arbeiters A.Tichomirow:

      "Ich ging durch eine der Giesereien. Das eine Ende der Halle war ganz dunkel, aber hinter einer dicken Ziegelwand war die andere Haelfte von den Flammen der offenen Hochoefen gluehenrot erleuchtet. Die Hitze war unertraeglich. Im Feuerschein bewegten sich dunkel und unheimlich menschliche Schatten. Es waren hauptsaechlich Frauen. Maedchen, mit geflickten Baumwollstruempfen an den duennen Beinen, kruemmten sich unter dem Gewicht der riesigen Trauben hochroten Stahls, die sie mit Zangen hielten. Dann sah man- und beim Zuschauen fuehlte man ihre verzweifelte korperliche Anstrengung und Willenskraft-, wie sie ihre schlanken, beinahe kindlichen Arme erhoben und die rotgluehenden Trauben unter einen gigantischen Stahlhammer schleuderten. Grosse rote Metallsplitter zischten durch das roetliche Halbdunkel, und die ganze Gieserei erzitterte unter dem ohrenbetaeubenden Laerm und Getoese der Maschinen."

    "Im Januar und Februar setzte neben der Blockade noch ein schrecklicher Frost ein und half Hitler. Nie zuvor war es kaelter als minus 30 Grad gewesen! Unser Unterricht wurde nach dem "Rund-um "den Ofen"-Prinzip weitergefuehrt. Es gab keine festen Plaetze, und wenn man in Ofennaehe oder unter dem Ofenrohr sitzen wollte, musste man zeitig kommen. Der Platz gegenueber der Ofentuere war fuer den Lehrer reserviert. Man setzte sich und wurde ploetzlich von einem herrlichen Gefuehl des Wohlseins erfasst. Die Waerme durchdrang die Haut bis auf die Knochen. Sie machte einen ganz muede und schlaff. Man wollte am liebsten an nichts denken, nur doesen und die Waerme aufnehmen. Es war eine Qual, sich zu erheben und zur Tafel zu gehen.... Die Wandtafel war so kalt und dunkel, und die Hand, gefangen im dicken Handschuh, wurde ganz starr und steif und verweigerte den Dienst. Immer wieder fiel die Kreide aus der Hand, und die Zeilen wurden ganz krumm...  Waehrend der Pause blieben alle sitzen, denn keiner hatte Verlangen nach den eisigen Korridoren...."


       Die sechzehnjaehrige Ljuba Tereschenkowa:

      "Unser Lehrer arbeitete verantwortungsvoll, bis er merkte, dass er nicht mehr gehen konnte. Er bat um ein paar Tage Urlaub in der Hoffnung, dass seine Kraefte zurueckkehren wuerden. Er blieb zu Hause und bereitete die Lektionen fuer das naechste Schuljahr vor. Er las weiterhin Buecher. So verbrachte er den 8. Januar. Am 9. Januar entschlief er sanft."


Die Folgen der Blockade


           Im Januar 1943 wurde die Blockade gebrochen.  Aber die Hitlerfaschisten fuhren fort, Leningrad mit ihrer Artillerie zu beschiessen und mit ihrer Luftwaffe zu bombardieren. 1943 beschoss die deutsche Artillerie die Stadt 561 Mal und feuerte etwa 67 000 Geschosse ab. Die deutsche Luftwaffe fuehrte 104 Luftangriffe durch und warf etwa 600 Spreng- und mehr als 2 600 Brandbomben ab. 1 549 Leningrader wurden getoetet und 5 418 verletzt.
           Die durch  die Blockade angerichteten Schaeden waren ausserordentlich hoch und wurden auf 38 535 134 000 Rubel geschaetzt.
           Die Hitlerfaschisten, die ungefaehr 150 000 Geschosse und mehr als 107 000 Brand- und Sprengbomben auf die Stadt abgeworfen hatten, toeteten 16 747 Menschen und verletzten 33 782. Nicht weniger als 800 000 Leningrader starben an Hunger. Indgesamt kamen ungefaehr eine Million Menschen in Leningrad und seinen Vororten um. Tausende von Werks- und Fabrikgebaeuden, Kliniken, Schulen und Wohnhaeusern wurden zerstoert oder verbrannt. Schwer litten die in aller Welt beruehmten Geschichts- und Kulturdenkmaeler.



Хостинг от uCoz